Als im Frühjahr 1964 in Venedig führende Restauratoren, Architekten und Archäologen zusammenkommen, um sich über internationale Standards des Konservierens und Restaurierens von Denkmälern zu verständigen, ahnt vermutlich noch niemand, welch schöpferischer Geist und welch normative Kraft von dem sympathisch unideologischen Grundsatzpapier ausgehen wird, das sie am 31. Mai unterzeichnen. Mit der Charta von Venedig verabschiedet die Gruppe um Piero Gazzola, Roberto Pane und Raymond Lemaire das bis heute einflussreichste und weltweit meist anerkannte Dokument zur Denkmalpflege, auch wenn die in einer Präambel und 16 Artikeln formulierten Prinzipien bis heute rechtlich unverbindlich geblieben sind.
Gleichwohl ist die tägliche Praxis von Architekten und Denkmalpflegern im Umgang mit dem gebauten Erbe in den letzten 50 Jahren komplexer geworden, und weder die Charta von Venedig noch hieran anknüpfende Grundsatzdokumente wie die Charten von Washington, Xi’an, Valletta u. a. bilden alle Aspekte des Bauens im historischen Kontext vollständig wie systematisch ab.
Mit dieser Website wird nunmehr vorgeschlagen, die Prinzipien der wichtigsten Dokumente zur Denkmalpflege um einige Richtlinien des Bauens im Bestand zu erweitern und in einem begrifflichen Gesamtsystem zusammenzuführen. Auf Basis der Originaltexte und einer Analyse ihrer Schlüsselbegriffe wurde ein schirmförmiges Strategiemodell entwickelt, in dem fünf Prinzipien (ECRAN), neun Strategien und rund 50 Empfehlungen für die Praxis den Umgang mit historischer Bausubstanz neu gliedern. Dabei verweist der Begriff der Tradition einmal mehr auf den natürlichen Schöpfungszusammenhang zwischen Bestehendem und Entstehendem: Altes ordnen, Neues verorten - Zukunft durch Herkunft.
Mit Hilfe des Strategiemodells wird es erstmals möglich, nach festgelegten Kriterien zu analysierende Baumaßnahmen im (denkmal-geschützten) Bestand grafisch zu typisieren. Langfristiges Ziel ist eine "Schirm"-basierte, CAD-gestützte Datenbank mit vorbildlichen Typengebäuden und deren mögliche Verknüpfung mit Umbau-spezifischen Kosten-Indices.