CHARTA VON VENEDIG - Restaurierung (Art. 9-13)
Kommentar (5. April 2018)
Art. 9
"... Maßnahme, die Ausnahmecharakter behalten soll." im frz. Original "... opération qui doit garder un caractère exceptionnel."
Die freie englische Übersetzung "... is a highly specialized operation." zielt nur auf den besonderen, nicht aber auf den Ausnahme-Charakter der Restaurierung ab und sollte wegen dieser Verharmlosung beispielsweise geändert werden in "... is an operation of exceptional character."
"..., etwas wiederherzustellen, von dem man nicht weiß, wie es ausgesehen hat, ..." im frz. Original "..., sur le plan des reconstitutions conjecturales, ...", bedeutet also eigentlich "hypothetische Rekonstruktion".
Zu den Begriffen reconstitution, Wiederherstellung, Rekonstruktion s. das Tetraedermodell unter Strategiemodell - Bauen im Bestand / Teilbereiche.
"..., wird sich das ergänzende Werk vom baulichen Kontext [wahlweise "baulichen Zusammenhang"] abheben..." Diese Übersetzung des frz. Originals "..., tout travail de complément ... relève de la composition architecturale ...", wird hiermit vorgeschlagen, da die bisherige, 1989 erfolgte Übertragung "... von der bestehenden Kopie abheben ..." (ICOMOS Monumenta I, 2012, 49 = ICOMOS Hefte X, 1992, 47) unkorrekt und irreführend ist. Auch die auf der offiziellen ICOMOS-Seite eingestellte undatierte und korrigierte Übersetzung "... von der bestehenden Komposition abheben ..." (s. www.icomos.org) verweist nicht auf den benannten architektonischen Rahmen und passt eher in einen malerischen, musikalischen oder kulinarischen Zusammenhang. Vgl. hierzu die bessere engl. Version "... any extra work ... must be distinct from the architectural composition ..."
Besten Dank auch an Frau Restauratorin M.A. Franziska Schlicht, Berlin, die am 29.05.2015 per Mail auf die fehlerhafte Übertragung in den ICOMOS-Dokumenten hingewiesen hat.
Restaurierung
Artikel 9
Die Restaurierung ist eine Maßnahme, die Ausnahmecharakter behalten sollte. Ihr Ziel ist es, die ästhetischen und historischen Werte des Denkmals zu bewahren und zu erschließen. Sie gründet sich auf die Respektierung des überlieferten Bestandes und auf authentische Dokumente. Sie findet dort ihre Grenze, wo die Hypothese beginnt. Wenn es aus ästhetischen oder technischen Gründen notwendig ist, etwas wiederherzustellen, von dem man nicht weiß, wie es ausgesehen hat, wird sich das ergänzende Werk vom baulichen Kontext abheben und den Stempel unserer Zeit tragen. Zu einer Restaurierung gehören vorbereitende und begleitende archäologische, kunst- und geschichtswissenschaftliche Untersuchungen.
Artikel 10
Wenn sich die traditionellen Techniken als unzureichend erweisen, können zur Sicherung eines Denkmals alle modernen Konservierungs- und Konstruktionstechniken herangezogen werden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen und durch praktische Erfahrung erprobt ist.
Artikel 11
Die Beiträge aller Epochen zu einem Denkmal müssen respektiert werden: Stileinheit ist kein Restaurierungsziel. Wenn ein Werk verschiedene sich überlagernde Zustände aufweist, ist eine Aufdeckung verdeckter Zustände nur dann gerechtfertigt, wenn das zu Entfernende von geringer Bedeutung ist, wenn der aufzudeckende Bestand von hervorragendem historischen ‚ wissenschaftlichen oder ästhetischen Wert ist und wenn sein Erhaltungszustand die Maßnahme rechtfertigt. Das Urteil über den Wert der zur Diskussion stehenden Zustände und die Entscheidung darüber, was beseitigt werden darf, dürfen nicht allein von dem für das Projekt Verantwortlichen abhängen.
Artikel 12
Die Elemente, welche fehlende Teile ersetzen sollen, müssen sich dem Ganzen harmonisch einfügen und vom Originalbestand unterscheidbar sein, damit die Restaurierung den Wert des Denkmals als Kunst und Geschichtsdokument nicht verfälscht.
Artikel 13
Hinzufügungen können nur geduldet werden, soweit sie alle interessanten Teile des Denkmals, seinen überlieferten Rahmen, die Ausgewogenheit seiner Komposition und sein Verhältnis zur Umgebung respektieren.
[Fortsetzung: s. 'Denkmalstätten']